13.07.2001

Vom Geheimnis der gelben Säcke!?!

von Klaus Groth

Es gibt einen Tag im Jahr, an dem in Bickenbach nichts so begehrt ist, wie eine kleine gelbe Rolle Plastik mit einem Gewicht von ca. 400 g. Zumindest für diesen einen Tag übertrifft die ‚gelbe Rolle' auf jeden Fall eindeutig die ‚Aktie Gelb' oder die ‚T-Aktie'. Zumindest ist dieser Tag der Beleg dafür, dass der Mensch zur Gattung der ‚Jäger und Sammler' gehört.

Wenn Ihnen das jetzt alles sehr unglaubwürdig vorkommt, dann begleiten Sie doch einfach mal eine(n) 15-jährige(n) TeilnehmerIn einer CVJM Jugendgruppe bei ihrem Einsatz zur Verteilung der gelben Säcke.

Es ist Samstagmorgen kurz vor 800 Uhr. Treffpunkt CVJM-Jugendzentrum in der Karl-Marx-Straße. Das Wetter weiß noch nicht ganz wie es werden will. Aber zumindest sind ca. 15 TeilnehmerInnen und MitarbeiterInnen des CVJM eingetroffen, so dass die Arbeit in drei Kolonnen erledigt werden kann. Mit zwei Kolonnen würde der Einsatz bis in den Nachmittag dauern. Aber so besteht Hoffnung, dass wir vor 1200 Uhr fertig werden.

Ein Mitarbeiter liest die Losung aus der Apostelgeschichte als Gedankenanstoß für den Tag. Es folgt ein Gebet um Kraft und Bewahrung im Straßenverkehr. Gut, dass wir nicht ‚unbewacht' sind in den kommenden Stunden, in denen wir kreuz und quer durch Bickenbach unterwegs sein werden.

Gemeinsam geht es zum Bauhof. Dort lagern auf drei Paletten, 120 Kartons mit insgesamt 2400 Rollen. Die Paletten haben längere Zeit im Freien gestanden, wodurch ein großer Teil der Kartons versifft und durchgeweicht ist und nicht mehr auf dem Arm getragen werden kann.

Die Anweisung ist klar und deutlich: Jeder Haushalt erhält im Rahmen der Verteilung eine Rolle. Ob es diesmal überhaupt reichen wird, wo Bickenbach doch von Jahr zu Jahr wächst? Also jetzt aber schnell die Kartons auf die drei Busse verteilt, die Personen ebenfalls gleichmäßig auf die Autos und dann braust jedes Fahrzeug zur Verteilung in seinem Revier.

Unser(e) TeilnehmerIn wird an einer Straßenecke mit einem Karton auf den Arm ausgesetzt. Die Vorgabe lautet ab hier alle Haushalte mit einer Rolle zu beglücken. Der Bus braust weiter, um weitere TeilnehmerInnen auszusetzen und alle ausgesetzten TeilnehmerInnen mit Nachschub zu versorgen. Pro Bus kommen da ca. 40 km an diesem Samstagmorgen zusammen.

Um nicht fortlaufend im Zick-Zack laufen zu müssen, entscheidet sich die/der TeilnehmerIn, zuerst einmal eine Straßenseite abzuarbeiten. Am ersten Haus die spannende Frage: Wieviele Haushalte sind hier zu Hause? Drei Klingeln am Tor, zwei erkennbar benutzt, aber nur eine beschriftet? Also gut, denkt unser(e) TeilnehmerIn, wir wollen mal nicht so geizig sein. Just als er/sie zwei Rollen vors Tor legt, geht dieses auf. Eine resolute Dame schaut heraus "Ach geben Sie mir noch eine Rolle. Meine Tochter wohnt auch noch hier. Die braucht auch welche!" Am Anfang ist die Bereitschaft zum Widerstand doch noch etwas größer. "Es soll aber nur eine Rolle je Haushalt verteilt werden!" Die Dame schaut erbost, als wäre sie persönlich beleidigt worden. "Nun geben Sie mal eine her. Ich habe doch gesagt, dass hier noch meine Tochter wohnt. Und außerdem, sie haben doch genug auf dem Arm." Der Klügere gibt nach. Auf zum nächsten Haus.

Auf dem Bürgersteig begegnet uns ein freundlicher älterer Herr. "Ja, er wohne da drüben auf der anderen Straßenseite, aber er würde seine Rolle schon mal gerne mitnehmen wollen. Das spare dann doch auch Arbeit, nicht wahr." Wer die Arme voller Rollen hat, kann sich halt schlecht wehren. Und schon ist der Herr verschwunden. Welchen Haushalt man nun zu Recht von der Verteilung ausschließen darf, bleibt offen. Auf zum nächsten Haus.

Aha, eine Toreinfahrt, ein Briefkasten. Also ein Rolle auf den Weg gelegt. Schon will unser(e) TeilnehmerIn weitergehen, da schallt es von der Garage her, dass doch im Garten noch ein Haus wäre. Die lange Auffahrt ist in Wahrheit die Zufahrt zu dem Haus des Sohnes. Also noch eine Rolle auf den Weg und weiter.

Das nächste Haus ist ein Mietblock. 10 Klingeln, also 10 Rollen bei den Briefkästen abgelegt. Da kommt eine Frau mittleren Alters daher, greift sich zwei Rollen und verschwindet im Haus. Also zur Sicherheit noch eine dazu gelegt, sonst kommen nachher noch Beschwerden.

So kämpft sich unser(e) TeilnehmerIn tapfer durch die Straßen von Bickenbach. Fast drei Stunden ist er/sie unterwegs mit durchschnittlich 8 kg Gewicht auf den Armen. Und immer wieder derselbe Tenor. Da bekommt man als TeilnehmerIn ja zwangsweise ein schlechtes Gewissen, über das Unrecht, dass man den Menschen antut.

Und am Ende der Straße bremst dann auf einmal ein Auto neben einem. Ein älterer Herr kurbelt die Scheibe herunter: Er würde sich bei der Gemeinde beschweren. Er wohne Nr. XY (ca. 500 m weit zurück), und er würde nie eine Rolle bekommen. Das ließe er sich nicht länger bieten. Sprachs, kurbelt das Fenster wieder hoch und braust davon. Die Nachforschung ergibt dann, dass der Zugang zu dem von der Straße nicht sichtbaren Anwesen über zwei Garagen erfolgt. Erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass das eine ‚Garagentor' eine Tür enthält und die beiden ‚Garagen' nicht zu dem danebenstehenden Anwesen gehören. Aber zumindest dieses eine Mal wird er sich doch nicht beschweren können.

Es ist 1215 Uhr. Alle Fahrzeuge melden ‚Vollzug' der Verteilung. Und wieder einmal hat es nicht gereicht. Zum Glück ist diesmal nur in einem Gebiet ein Straßenzug unversorgt geblieben. Wer weiß, wenn wirklich jeder Haushalt nur eine Rolle bekommen hätte, dann hätte es ja vielleicht doch einmal gereicht. Auf jeden Fall erscheint es den Teilnehmern, als wenn heute abend in Bickenbach die Trophäen gezählt werden, um denjenigen zu ermitteln, der die meisten Rollen ergattert hat.

Liebe Bickenbacher, die obige Darstellung ist natürlich (ein wenig) überzogen. Dennoch spiegelt sie eine beeindruckende Erfahrung wieder, die die Teilnehmer vom CVJM Bickenbach bei ihrer alljährlichen Verteilaktion der ‚Gelben Säcke' immer wieder machen. ‚Gelbe Säcke' gibt es das ganze Jahr über bei der Gemeindeverwaltung. Die Helfer handeln nur gemäß den Vorgaben, die ihnen gemacht werden. Und jede zweite Rolle in einem Haushalt bedeutet, dass ein Haushalt in Bickenbach keine neue Rolle bekommt und somit auf jeden Fall sich diese bei der Gemeinde selbst besorgen muss.

Vielen Dank für Ihr Verständnis und auch für die Unterstützung des Engagements unserer Teilnehmer, die einen ganzen Samstagvormittag einsetzen, damit allen Bickenbachern ein Weg zum Rathaus erspart bleibt.

Natürlich kann es durch ‚menschliches Versagen' sowie aus den geschilderten Problemen in der ‚Identifikation eines Haushalts' schon mal dazu kommen, dass Sie keine Rolle vor Ihrer Haustür vorfinden. Dies bitten wir zu entschuldigen. Die TeilnehmerInnen und MitarbeiterInnen sind bemüht, bei der Verteilung so gewissenhaft wie möglich zu arbeiten.

Sollte unsere Arbeit Anlass zu Beschwerden geben, denn wenden Sie sich ruhig direkt an unsere Mitarbeiter. Und sollte wieder der ‚Tag der Gelben Säcke' sein, dann denken Sie vielleicht einfach mal an diesen kleinen Artikel zurück...

Ihr
CVJM Bickenbach